Wiederaufbau und Kampf um Autonomie (1945–1972)

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg hegten viele Südtiroler erneut Hoffnungen, eine Wiedervereinigung mit Nordtirol im Zuge einer absehbaren staatlichen Neugründung Österreichs zu erreichen. Auf Initiative der neu gegründeten Südtiroler Volkspartei wurden hierfür 155.000 Unterschriften gesammelt und dem österreichischen Bundeskanzler Leopold Figl am 22. April 1946 übergeben.

 

Da Österreich zu diesem Zeitpunkt jedoch noch nicht die volle staatliche Souveränität von den alliierten Siegermächten zurückerhalten hatte, war die Verhandlungsposition der österreichischen Delegation gegenüber Italien bei den Friedensverhandlungen 1946 in Paris geschwächt.

 

Am Rande der Friedensverhandlungen wurde hinsichtlich der Südtirolfrage zwischen Italien und Österreich schließlich das sogenannte Gruber-De-Gasperi-Abkommen unterzeichnet. Italien, das als Folge des Krieges bereits die Halbinsel Istrien und die Städte Fiume und Zara an Jugoslawien hatte abtreten müssen, wurde bei diesen Verhandlungen das Gebiet Südtirols erneut zugesprochen. Der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerungsmehrheit in der Region wurden von Seiten Italiens allerdings autonome Grundrechte zugesichert; Österreich wurde als Schutzmacht der Südtiroler Bevölkerung in Italien anerkannt.

 

Nach Errichtung der autonomen Region Trentino-Tiroler Etschland im Jahr 1948, welche neben dem Gebiet Südtirols auch die mehrheitlich italienischsprachig bevölkerte Provinz Trient umfasste, wurde die Umsetzung wesentlicher Punkte des Pariser Vertrages von der italienischen Zentralregierung bewusst verzögert, was zu stetig steigendem Unmut der deutsch- und ladinischsprachigen Südtiroler gegenüber dieser ersten Autonomielösung, dem sogenannten ersten Autonomiestatut, führte. Besonders umstritten war in jenen Jahren die, von der italienischen Regierung geförderte, Zuwanderung von italienischen Arbeitsmigranten, die 1957 ihren Höhepunkt erreichte, als für diese Menschen 5.000 Wohnungen in Südtirol errichtet werden sollten.

 

Vertreter der Südtiroler Volkspartei unter Silvius Magnago befürchteten eine fortschreitende Marginalisierung der deutsch- und ladinischsprachigen Bevölkerungsmehrheit. Auf der Großkundgebung von Schloss Sigmundskron versammelte die Volkspartei 1957 rund 35.000 Südtiroler und forderte eine Loslösung der Provinz Bozen (Südtirol) von der Provinz Trient, womit sie erstmals auch internationales Interesse für die Südtirol-Frage wecken konnte.[31].

Mit der definitiven Neugründung Österreichs nach Unterzeichnung des Staatsvertrags im Jahr 1955 erhielt die Südtiroler Volkspartei erneut verstärkte Unterstützung von Seiten der Österreichischen Bundesregierung. Diese erreichte im Sinne der Südtiroler einen ersten Teilerfolg, als nach diversen erfolglosen Sondierungsgesprächen zwischen Regierungsvertretern Italiens und Österreichs auf Initiative des sozialdemokratischen Außenministers Bruno Kreisky die versäumte Umsetzung des Pariser Vertrags 1960 erstmals als Thema auf die Tagesordnung der UN-Vollversammlung gesetzt wurde. Mit der UN-Resolution 1497/XV vom 31. Oktober 1960 wurde dabei festgestellt, dass die Umsetzung des Pariser Vertrags für Italien bindend sei.

 

Parallel zu den diplomatischen Verhandlungen zwischen der Südtiroler Volkspartei und italienischen und österreichischen Regierungsvertretern war es bereits ab 1956 zu einer Serie von Bombenattentaten gekommen, die anfänglich (bis 1961) vom BAS um Sepp Kerschbaumer, später von neonazistischen Kreisen aus dem deutschsprachigen Ausland durchgeführt worden waren, wobei diese Gruppen nicht eine Umsetzung der Autonomielösung anstrebten, sondern eindeutig für die Loslösung Südtirols von Italien eintraten. Während die Anschläge in den ersten Jahren unter der Regie Kerschbaumers weitgehend auf die Zerstörung von Sacheigentum abzielten (Strommasten, italienische Wohnbauten), richtete sich die Gewalt sogenannter "Südtirol-Aktivisten" zunehmend auch gegen Menschen, nachdem infolge der Anschlagsserie der Feuernacht 1961 die ursprüngliche BAS-Gruppe fast vollständig inhaftiert worden war.

 

Insgesamt wurden in der Zeit vom 20. September 1956 bis zum 30. Oktober 1988 361 Anschläge gezählt, bei denen Sprengstoff, Maschinengewehre und Minen eingesetzt wurden. Dabei wurden 21 Tote registriert, davon 15 Staatsvertreter, zwei Zivilisten und vier Mitglieder des BAS, die bei der Vorbereitung eines Bombenattentats getötet wurden, weiters 57 Verletzte (24 Staatsvertreter und 33 Zivilisten). Zur Eskalation der Gewalt trugen ab 1961 auch die italienischen Behörden bei. Neben Folterungen von verhafteten BAS-Aktivisten durch die Carabinieri, die von diesen Vergehen vor Gericht – im Gegensatz zu den meisten BAS-Aktivisten – großteils freigesprochen wurden, operierten auch bald der italienische Militärgeheimdienstes SIFAR und die paramilitärische Geheimorganisation Gladio in Südtirol, um mit gewalttätigen Provokationen die politischen Spannungen zu verschärfen und dadurch die Verhandlungsposition der deutschsprachigen Südtiroler zu schwächen.

 

Die diplomatischen Verhandlungen waren nach dem Erfolg Kreiskys vor der UNO 1960 und vor dem Hintergrund der Attentate des Jahres 1961 einer Lösung näher gekommen, als in Italien im selben Jahr die parlamentarische Neunzehnerkommission ihre Arbeit aufnahm, um konkrete Lösungsvorschläge für die Umsetzung des Gruber-De-Gasperi-Abkommens zu erarbeiten. Die Kommission präsentierte im April 1964 ihre Ergebnisse; im Dezember desselben Jahres erzielten die beiden sozialdemokratischen Außenminister Giuseppe Saragat und Bruno Kreisky daraufhin eine grundlegende Einigung, die allerdings von der Südtiroler Volkspartei abgelehnt wurde. Erst nach mehrjährigen Nachverhandlungen, die von Vertretern der österreichischen ÖVP-Regierung unter Josef Klaus, von verschiedenen italienischen Regierungsvertretern (unter ihnen maßgeblich der Christdemokrat Aldo Moro) und von Silvius Magnago für die Südtiroler Volkspartei geführt wurden, konnte schließlich hinsichtlich einer Reihe an Maßnahmen eine Einigung erzielt werden.

 

Unter dem Schlagwort Südtirol-Paket wurden diese Maßnahmen 1969 von der Generalversammlung der Südtiroler Volkspartei, vom österreichischen Nationalrat und 1971 vom italienischen Parlament genehmigt, womit das sogenannte Zweite Autonomiestatut für Südtirol im Jahr 1972 als Verfassungsgesetz in Kraft treten konnte. Im Verlauf der folgenden Jahrzehnte wurde es mittels einfacher Gesetzgebung schrittweise umgesetzt.

 

 

Autonomie seit 1972

1992 teilte die italienische Regierung der österreichischen mit, das Südtirol-Paket sei verwirklicht. Von der Regierung in Wien dazu befragt, traten über 90 % der Delegierten der SVP dafür ein, dass Österreich den Streit als beendet erkläre; der Tiroler Landtag in Innsbruck beschloss diese Empfehlung ebenfalls. Österreich gab daraufhin 1992 gegenüber Italien und den Vereinten Nationen die so genannte „Streitbeilegungserklärung“ ab. Im Zeitraum von 1972 bis 1992 waren nach und nach alle Paketbestimmungen, wie im „Operationskalender“ vereinbart, in die Tat umgesetzt worden.

 

Durch den ethnischen Proporz kann seither eine gerechte Verteilung der Stellen in der öffentlichen Verwaltung – noch im Jahre 1972 waren 90 Prozent der Beamten italienischer Muttersprache – gewährleistet werden, sowie eine der Sprachgruppenstärke angemessene Verteilung von Sozialwohnungen erfolgen. Die Selbstverwaltung, wie sie im ursprünglichen Gruber-De-Gasperi-Abkommen vorgesehen war, ist durch das Zugeständnis wichtiger Kompetenzen, auch in der vom Landtag ausgeübten Gesetzgebung, verwirklicht worden.

 

Von Belang sind auch die beträchtlichen finanziellen Mittel, die dem Land Südtirol zustehen und durchaus effizient eingesetzt werden. Landeshauptmann Luis Durnwalder, der 1989 die Nachfolge von Silvius Magnago angetreten hat, wurde am 30. Mai 2006 für seinen Einsatz für eine umsichtige und vorausschauende Haushaltspolitik mit dem „European Taxpayers’ Award“ ausgezeichnet.[33]

 

Dank der Europäischen Union und der Einrichtung der Europaregion Tirol–Südtirol–Trentino verschwinden die politischen Grenzen zwischen den Gebieten des historischen Tirols immer mehr: Grenzposten und Grenzkontrollen gibt es de facto schon seit Jahren nicht mehr. Darüber hinaus trägt der Euro als gemeinsame Währung zum wirtschaftlichen Zusammenwachsen der gesamten Region bei.

 

Die drei ladinischsprachigen Orte Cortina d’Ampezzo, Livinallongo del Col di Lana und Colle Santa Lucia, die, ursprünglich ebenfalls mit Südtirol vereint, von den Faschisten an die Provinz Belluno angeschlossen wurden, haben am 28. Oktober 2007 in einem Referendum dafür gestimmt, wieder an Südtirol angegliedert zu werden. Letztendlich wird das italienische Parlament über die Wiederherstellung der historischen Grenzen entscheiden.

 

Aufgrund der besonderen Schutzmaßnahmen für die deutsche und ladinische Bevölkerung gilt Südtirol als Modellregion für die Autonomie von ethnischen Minderheiten, so dass sich nach einer durchaus konfliktreichen Vergangenheit ein friedliches Nebeneinander aller Bevölkerungsgruppen herauskristallisieren konnte.

 

Ein echtes Miteinander gibt es trotzdem nicht. Die Trennung der Bevölkerungsgruppen wird vor allem durch das Schulsystem, aber auch durch die Konzentration der Italiener auf die größeren Ortschaften gefördert. Aus verschiedenen Gründen ist das Unbehagen, sog. „Disagio“, vieler Italiener vor der Südtiroler Autonomie nicht zurückgegangen. Ihre Herkunft aus den verschiedensten Regionen Italiens hat die Bildung einer starken gemeinsamen Identität beeinträchtigt. Zudem beherrschen viele die deutsche Sprache (ganz zu schweigen vom Südtiroler Dialekt) nur mangelhaft.

 

Seit Einführung des Proporzes ist auch der öffentliche Dienst keine rein italienische Domäne mehr. Gewisse Spannungen zwischen den Bevölkerungsgruppen, die als Sprachgruppen bezeichnet werden, sind daher geblieben. In den Achtziger Jahren profitierte das neofaschistische Movimento Sociale vom Unmut der Italiener und konnte vor allem in Bozen beträchtliche Wahlerfolge einfahren. Heutzutage sind ihre Stimmen auf zahlreiche Parteien verstreut, was eine starke politische Vertretung schier unmöglich macht. Das schlägt sich zum Beispiel darin nieder, dass von Südtirols 2.030 Gemeinderäten nur 162, also 7,98 %, der italienischen Sprachgruppe angehören, obwohl diese 26,47 % der Gesamtbevölkerung stellt.[34]

 

Am 15. November 2001 beschloss der Gemeinderat der Stadt Bozen, den Siegesplatz, an dem sich das Siegesdenkmal Mussolinis befindet, in Friedensplatz umzubenennen: Die Umbenennung sollte ein Zeichen der Versöhnung zwischen den Südtiroler Sprachgruppen sein. Die Alleanza Nazionale und die italienischnationalistische Unitalia sahen darin aber einen Versuch, die Stadt Bozen ihrer (heute) „italienischen Identität“ zu berauben, und konnten infolge einer Unterschriftenaktion eine Volksbefragung erzwingen, deren Ergebnis schließlich unerwartet deutlich ausfiel: 62 Prozent der am 6. Oktober 2002 abgegebenen gültigen Stimmen befürworteten eine Rückbenennung in Siegesplatz.[35]

 

Für Unmut sorgte die im Jahr 2006 von den Schützen initiierte Petition der Südtiroler Bürgermeister an das österreichische Parlament in Wien, die Schutzmachtfunktion Österreichs verfassungsmäßig zu verankern. Der italienische Senator und ehemalige Präsident Francesco Cossiga brachte daraufhin einen Gesetzentwurf für ein Referendum über die staatliche Zugehörigkeit Südtirols in das italienische Parlament ein. Auch die Südtiroler Volkspartei lehnte den Entwurf ab, um keine neuen ethnischen Spannungen zu fördern. Am 10. Mai 2008 brachte Francesco Cossiga im Senat in Rom erneut einen Antrag zur Ausübung des Selbstbestimmungsrechts für Südtirol ein. Die Südtiroler Bevölkerung soll in einer Volksabstimmung befragt werden, ob Südtirol Teil des italienischen Staates bleiben soll, sich an Österreich bzw. an Deutschland anschließen oder selbständig werden soll.[36]

 

Auch in der deutschsprachigen und ladinischen Südtiroler Bevölkerung gibt es Bestrebungen, sich von der Zugehörigkeit zum italienischen Staat zu lösen. Dafür setzen sich verschiedene Parteien ein, von der Union für Südtirol bis zu den Freiheitlichen und der Süd-Tiroler Freiheit, die mit provokativen Plakataktionen unter dem Motto „Süd-Tirol ist nicht Italien“ auf sich aufmerksam gemacht hat.

 

Insbesondere die finanzielle Autonomie Südtirols ist von Seiten italienischer Politiker immer wieder in die Kritik geraten, weil sich das Land anders als die Nachbarregionen nicht angemessen an den Transferzahlungen für den unterentwickelten Süden Italiens beteilige. Der ehemalige Präsident der Region Venetien sprach offen von „überholten Autonomie-Privilegien“ und drohte, den italienischen Verfassungsgerichtshof und sogar den Europäischen Gerichtshof anzurufen.[37]

 

Ende Juli 2009 forderte der österreichische FPÖ-Politiker und Dritte Nationalratspräsident Martin Graf eine Volksabstimmung über eine Rückkehr Südtirols zu Österreich.[38] Südtirols Landeshauptmann Durnwalder bezeichnete den Vorstoß Grafs als „unrealistisch und unverantwortlich“.[39] Der Vorstoß wurde vom Nordtiroler Landeshauptmann Günther Platter, vom Zweiten Nationalratspräsidenten Fritz Neugebauer und von Andreas Khol, Nationalratspräsident bis 2006, ebenfalls kritisiert.

 

Bei den Landtagswahlen 2013 verlor die Südtiroler Volkspartei mit 45,7 % bzw. 17 Sitzen erstmals in ihrer Geschichte die absolute Mandatsmehrheit.

 

 

Aus: https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_S%C3%BCdtirols